Potsdam, Januar 1924
Dienstag –Erster Tag
Es ist alles nur in meinem Kopf, sagte Theodor sich, als er wie an jedem Tag die Waisenbrücke überquerte, um auf die andere Seite des Stadtkanals zu gelangen. Heute zitterten weder seine Knie noch verspürte er den Drang, hilflos nach Luft zu schnappen. Es kam nun zwar vor, dass ihn beim Überqueren einer der Brücken keinerlei Beschwerden übermannten, doch dies blieb die Ausnahme. Denn Brücken gab es in Potsdams Straßennetz reichlich, überall in der Stadt überspannten sie die Havel und den Stadtkanal. Er glaubte zu wissen, dass diese panische Angst mit den Erlebnissen im Großen Krieg zusammenhing. Er hatte viel erlebt, damals an der Westfront. Der Kanal, über den die Waisenbrücke führte, machte genau an dieser Stelle eine Neunzig-Grad-Biegung. Von dort ging es in südlicher Richtung der Mündung in die Neustädter Havelbucht entgegen. Zurzeit war der Kanal zugefroren. Kein Kahn und kein Boot schipperten darauf durch die Stadt. Otto Heinrich hatte ihm erzählt, dass man die Kanäle früher Grachten genannt hatte, wie ihre holländischen Verwandten. Das war im vergangenen Herbst, während Theodor ehrfürchtig vor dessen Staffelei innegehalten und den farbenfrohen Pinselstrich auf der Leinwand bewundert hatte. »Kanal-Otto« – so sprachen die Potsdamer von ihm. Liebevoll meinten sie es. Denn sie stellten ihn damit auf eine Stufe mit dem italienischen Maler Canaletto, der im 18. Jahrhundert nicht nur Venedig, sondern auch das Dresdener Stadtpanorama vom Elbufer aus gemalt hatte. »Ich male am liebsten den Kanal, wenn es Winter ist«, hatte Otto Heinrich ihm einmal verraten, was Theodor gar nicht recht hatte glauben wollen. Die winterliche Trostlosigkeit sollte der Maler der bunten Herbstfarbigkeit oder der sonnigen Sommerfülle vorziehen? Vor Weihnachten hatte Theodor ihn dann tatsächlich mit seinem Skizzenblock am Kanal beobachtet. Manches Mal hatte er sogar seine Staffelei aufgestellt und mit seiner linken Hand außerordentlich schwungvoll den Pinsel über das Papier gleiten lassen. Theodor war froh, dass er im Krieg körperlich unversehrt geblieben war. Nicht auszudenken, wenn er verwundet worden wäre, ihm vielleicht sogar eine Hand oder gar ein Arm oder ein Bein fehlen würde. Vermutlich hatte er diesen glücklichen Umstand seiner Atemwegserkrankung zu verdanken, aufgrund derer er zunächst ausgemustert worden war. Erst in den letzten Kriegsmonaten hatten sie ihn als beschränkt kriegsverwendungstauglich eingezogen. Mit seiner Verpflegungskolonne war er nicht unmittelbar bis an die Westfront vorgedrungen. Gesehen hatte er allerdings genug, viel zu viel. Gehört und gesehen, gerochen und gesehen.
Gedankenverloren blickte er auf seine Hände, die das Brückengeländer fest umklammerten. Die eisige Kälte kroch in seine Handschuhe. Erst allmählich wurde er gewahr, dass er eine ganze Weile regungslos auf der Brücke gestanden hatte. Was mochten die Leute denken, wenn ihr Postbote nichts Besseres zu tun hatte, als Löcher in die Luft zu starren? Doch niemand war in der Nähe unterwegs. Wer draußen nichts zu suchen hatte, blieb im Haus oder in seiner kleinen Wohnung, hoffend, dass wenigstens eine Feuerstelle genügend Wärme spendete. Am Himmel kündigte sich bereits das Ende des Tages an. Die Umgebung wirkte in diesem fahlen Licht noch unwirtlicher, die kahlen Äste der Kastanienbäume schienen nach dem letzten Tageslicht zu greifen. Theodor ließ das Brückengeländer los und rückte den Riemen seiner Posttasche zurecht. Bis auf wenige Briefe enthielt diese heute lediglich ein Päckchen, das er nur wenige Häuser weiter zustellen musste. Das Haus konnte er von hier aus bereits sehen.
c) Karin Joachim/Hanna C. Bergmann und Gmeiner-Verlag, Meßkirch 2019